was bewegt... Renate Künast?

20.01.2004 Sie stammt aus dem Ruhrpott, war eine Grüne der ersten Stunde und wurde zum Schrecken der Agrarlobby. Als Ministerin musste sie lernen, dass „verändern wollen“ nicht gleich „verändern können“ bedeutet. Trotzdem möchte sie immer noch die Welt verbessern.

VON MARCUS ROHWETTER

Kurz bevor ihm selbst die Worte ausgingen, brachte der Bauer noch seine Frau zum Schweigen. „Ruhig jetzt!“, herrschte er sie an. „Gleich werd ich der Ministerin mal erklären, wie wir das bei uns machen auf m Hof.“ Es war einer dieser Politiker-treffen-Bürger-Termine am Rande einer Konferenz im Rheinland, Bauer und Bäuerin warteten auf Renate Künast. Dann endlich kam die Agrarministerin, einem Dutzend Fotografen vorauseilend, ergriff die breiten Hände des Mannes, schüttelte sie und ließ sich dabei fotografieren. Der Landwirt, von der Situation eingeschüchtert und völlig überfordert, brachte keinen geraden Satz mehr hervor.

Selbstbewusst ist Renate Künast, burschikos und manchmal etwas dominant. Sie hätte dem Bauern sagen können: „Komm, sag dein Sprüchlein auf. Dann sag ich dir auch was Nettes und bin in zwei Minuten wieder weg hier.“ Sie hat es nicht getan es hätte den Mann wohl vollends aus der Bahn geworfen. Anders als er kennt Renate Künast das Spiel. Sie weiß, dass es bei dem Besuch auf dem Hof vor allem um ein gelungenes Foto geht. Die Menschen, die sich um den Gast aus Berlin gruppieren, sind dabei bloß Statisten. Immerhin spielt Künast dieses Spiel anders als andere Spitzenpolitiker. Sie versucht gar nicht erst, den Statisten vorzumachen, sie seien die Hauptdarsteller, denn das wäre gelogen. Eine Haltung, die sie glaubwürdig macht.

Die 49-Jährige hat viel gelernt auf ihrem Weg von der Anti-Atom-Aktivistin hin zur Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, von der Demo in Gorleben bis zur Grünen Woche in Berlin, die sie in dieser Woche offiziell eröffnen wird. Ihre Themen sind Freilandeier mit Dioxin, Käfighühner und Gengetreide, Rinderwahnsinn, Überfischung und dicke Kinder: Künast musste sich verändern und ist sich dabei doch treu geblieben.

Am Rednerpult lassen sich internationale Gäste über erneuerbare Energien aus. Die Ministerin hat Pech, muss stundenlang dort oben auf dem Podium sitzen und zuhören, weil vor ihr jemand endlos über „den Wandel vom Landwirt zum Energiewirt“ referiert. Ohne das Prädikat „Künast on board“ würde ihm vielleicht längst niemand mehr zuhören. Sie selbst sitzt geduldig auf ihrem Konferenzstuhl und spricht nur noch ein paar Schlussworte. Ihr Englisch ist fließend. Und trotzdem: Es sind nicht die Vokabeln, es ist auch nicht die Grammatik. Es ist diese Art, wie sie spricht. Leicht gebrochen, den deutschen Akzent hört man heraus. So redet kein Bankvorstand, kein Unternehmensberater und auch kein sonstiger Topmanager mehr. Niemand, dem seine Eltern das internationale Internat bezahlt haben, der an einer amerikanischen Eliteuniversität studiert hat und dort per Abschluss mit Einfluss versorgt wurde. Wer so spricht, kommt aus dem Volk.

Renate Künast stammt aus Recklinghausen. Der Vater arbeitet als Kfz-Mechaniker, notgedrungen, da er als jüngerer Sohn den elterlichen Bauernhof nicht geerbt hat; die Mutter kümmert sich um Haushalt und vier Kinder. Sie sind einfache Leute und leben im Haus von Künasts Chef, im Obergeschoss. So ganz passen sie nicht hierher, in den Westen der Stadt, wo ziemlich viele Dr. med., Dr. jur. und Dr. sonstwas wohnen. Die bildungsbürgerliche Nachbarschaft bleibt dem Vater fremd, bislang hat niemand in der Familie auch nur das Abitur gemacht. Seine Pläne für Renate: Hauptschule. Heiraten. Fertig.

Wieso es dann ganz anders kam? „Ich will, ich kann, aber ich darf nicht“, habe sie ihren Vater genervt, sagt Renate Künast. So lange, bis dieser endlich die Realschule erlaubte, so lange habe sie gekämpft. Sie habe eben schon damals ganz genau gewusst, was sie will und wo es langgeht.
Ihre Klassenlehrerin Brunhilde Verstege erinnert sich etwas anders. „Sie war eine fleißige Schülerin und überdurchschnittlich gut in allen Fächern, aber ich musste mich sehr für ihre Zukunft einsetzen“, sagt sie. Die alte Dame weiß noch genau, wie Renate mit Freundin Eugenie gern im Garten spielte, aber auch stundenlang in der Stadtbücherei hockte. Gemeinsam überredeten die Mutter und die Lehrerin schließlich den Vater. „Irgendwann war er dann mit der Realschule einverstanden“, sagt Verstege. Und ärgert sich fast ein wenig, nicht härter verhandelt zu haben: „Renate hätte auch das Gymnasium gepackt.

Das hat Künast längst bewiesen. Auf die mittlere Reife sattelte sie die Fachoberschulreife drauf („Ohne Bafög hätte ich das nie geschafft“) und anschließend ein Studium an der Fachhochschule in Düsseldorf. Sie wurde Sozialarbeiterin.

Renate Künast, gerade 21 Jahre alt, fand einen Job in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Dort erkannte sie bald, dass „machen wollen“ und „machen können“ zwei verschiedene Dinge sind. Soziales war nicht gut angesehen bei den Wärtern. Sie glaubten, gesiebte Luft allein bringe die Junkies von der Nadel - damals sperrte man die Drogensüchtigen lieber weg, als sie zu therapieren. Doch Künast war überzeugt: Wer hier sitzt, ist krank, aber nicht unbedingt kriminell. Und versuchte, im Rahmen beschränkter Möglichkeiten zu helfen. „Einen von damals habe ich vor ein paar Jahren als Taxifahrer in Berlin wiedergetroffen“, sagt sie. „Das hat mich sehr gefreut“ Rund zwei Jahre blieb sie im Gefängnis.
Das schnörkellose Elternhaus, die Kindheit im Ruhrpott, die Sozialarbeit im Knast - Renate Künast hat gelernt, klare Worte zu sprechen. Sie weiß sich zu wehren, sich durchzusetzen. Das kommt ihr als Ministerin zugute.

Seit Anfang des Jahres gilt das neue Gentechnikgesetz, das maßgeblich von der Landwirtschaftsministerin stammt. Für das sie viel Prügel von Agrarlobbyisten bezog und auf der Grünen Woche wohl erneut beziehen wird. Sie hat sich durchgesetzt und den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen in Deutschland zwar nicht verboten, aber praktisch unmöglich gemacht. Renate Künast hat einfach die politischen Spielregeln befolgt, indem sie kaum überwindbare ökonomische Hürden im Gesetz installierte. Sollten sich gentechnisch veränderte Pflanzen auf einem eigentlich gentechnikfreien Feld ansiedeln, so haften dafür alle Genbauern in der Umgebung. Sie müssen für den Schaden aufkommen, egal, von wessen Feld der Samen tatsächlich herübergeweht kam. Wer wird ein solches Risiko auf sich nehmen wollen?

So setzt man ein politisches Weltbild durch. Nicht etwa, indem man Versuchsfelder niedertrampelt, sich irgendwo ankettet, Plakate aufstellt oder demonstriert. Eine Erkenntnis, die für Renate Künast nicht immer selbstverständlich war.

Nach ihrer Zeit als Sozialarbeiterin im Gefängnis studierte sie Jura in Berlin. Es war die Zeit ihrer Politisierung. Ende der Siebziger trat sie der Alternativen Liste bei, dem Vorläufer der heutigen Grünen. „Anders als bei anderen politischen Gruppierungen dieser Zeit gab es dort keine Denkverbote“, sagt sie. Bald darauf zog sie nach Niedersachsen, in den Landkreis Lüchow-Dannenberg, wo bei Gorleben ein Atommülllager geplant war. Nahe den Bohrlöchern entstand das Hüttendorf „Republik Freies Wendland“. Dass sie in der Siedlung alternative Bauweisen kennen gelernt und erste Solaranlagen errichtet habe, erzählt Künast oft. Dass auch sie einen Pass der Freien Republik besessen habe, berichtet sie schon seltener. Und gar nicht erzählt sie, dass zu diesem Pass eine Erklärung gehört, die sie unterschrieben hat und die heute so befremdlich klingt. Jeder Bürger der Wendland- Republik erklärte ausdrücklich, dass „ein Staat, der an dem tödlichen Missverhältnis festhält, dass innere und äußere Sicherheit durch Waffen und Uniformen hergestellt werden kann“, nicht länger der seine sei.

Heute ist sie Ministerin jenes Staates, von dem sie sich einst lossagte. Und keine Regierung der Bundesrepublik hat mehr Soldaten ins Ausland geschickt als die, der Renate Künast angehört. „Das war eine andere Zeit“, sagt sie und würde gern das Thema wechseln. Aber steht nicht in der Grundsatzerklärung ihrer Partei: „Jeder Mensch ist einzigartig und verdient gleiche Anerkennung - heute und morgen, hier und anders wo“? Wie kann sie neben einem Innenminister auf der Regierungsbank sitzen, der Asylbewerber am liebsten in Lagern in Nordafrika halten würde? „Otto Schily hat einen langen politischen Weg hinter sich.“ Genauso wie Joschka Fischer, der es vom Randalierer zum Außenminister brachte. Und wie sie selbst.

Lieber arbeitet sie in der Regierung als in der Opposition. Lieber dreht sie kleine Räder in die richtige Richtung als große überhaupt nicht. Wenn sie schon nicht die Welt retten kann, dann wenigstens einen Teil von ihr.

Gemeinsam mit der SPD zogen die Grünen nach dem Mauerfall ins Berliner Rote Rathaus, Künast wurde dort Fraktionsvorsitzende. Bei der Reform der Landesverfassung machte sie sich einen Namen als engagierte Rechtspolitikerin. Und als Gerhard Schröder 1998 die Bundestagswahl gewann, handelte sie den rot-grünen Koalitionsvertrag aus und übernahm Mitte 2000 gemeinsam mit Fritz Kuhn den Bundesvorsitz von Bündnis 90/Die Grünen.

Der Tag der Entscheidung kam, als Rindfleisch zum Risiko wurde. Es war der 9. Januar 2001, und die Republik wusste, dass BSE nicht mehr nur Problem des Auslands war. Vor laufenden Kameras verlasen die grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer und SPD-Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke ihre Rücktrittserklärungen. Drei Tage später übernahm Künast das Agrarressort und vom Gesundheitsministerium obendrein noch den Verbraucherschutz. BSE wurde damit nicht aus der Welt geschafft, aber die öffentliche Panik ist vorbei. Bundeskanzler Gerhard Schröder habe sich einmal gerühmt, mit ihrer Ernennung bewusst die Grünen gerettet zu haben, erzählt ein Beobachter.

Bis Künast kam, hatte die Bauernlobby das Landwirtschaftsministerium fest im Griff Angeblich bekam der Bauernverband manchen Gesetzentwurf schneller zu sehen als der jeweilige Ressortchef. Renate Künast, die erste Frau in diesem Job, brach die Macht der Lobbyisten. Sie zeigte sich durchsetzungsfähig und räumte erst einmal ihr Haus auf. Viele wurden entmachtet, vor allem einige intern als »Agrar-Stalinisten« geschmähte Mitarbeiter.

Sie errichtete zwei neue Institutionen, um die Lebensmittelsicherheit zu verbessern und Risiken schneller zu erkennen. Und sorgte dafür, dass es einen kleinen, aber mittlerweile fest etablierten Anteil an Ökoprodukten in der Landwirtschaft gibt - auch wenn dieser deutlich kleiner ist, als ursprünglich von ihr gewollt. Ihr einstiger Lieblingsfeind Gerd Sonnleitner, der Chef des Bauernverbandes, sei „inzwischen ganz zahm geworden“, rühmt sich Künast. Geschickt besetzt sie politische Themen und spielt dabei ihre Kabinettskolleginnen an die Wand. Während Ulla (Gesundheit) und Renate Schmidt (Familie) noch überlegten, wie sie beim Massenphänomen „Deutschlands dicke Kinder“ punkten könnten, hatte Künast bereits Industrie, Bauern und Wissenschaft an einen Tisch gebracht und ein Buch veröffentlicht. Denn sie beherrscht die wichtigste Spielregel der Mediendemokratie: Wer als Erster präsent ist, darf sich um das Thema kümmern.

Ein wenig erinnert die Ministerin an eine strenge Tante: kühl, aber doch wohlmeinend. Dann wieder zeigt sie, plötzlich und unerwartet, ganz viel Gefühl. Es gibt halt Themen, die ihr wirklich nahe gehen. So wie beim Treffen der EU-Agrarminister vor gut zwei Jahren in Brüssel. Renate Künast musste über die Fischfangquoten für das nächste Jahr verhandeln. Sie plädierte für einen radikalen Fangstopp, weil die Kabeljaubestände kurz vor dem Aus standen. Die meisten ihrer Kollegen waren dagegen, Fischerei bedeutet nun mal Arbeitsplätze. Drei Tage lang dauerten die Verhandlungen. Und als Künast verloren hatte, verließ sie den Saal mit Tränen in den Augen. "Viele der damaligen Minister dachten einfach nur ans Geld. Und es hat nur wenige interessiert, dass ganze Fischarten systematisch ausgerottet werden", sagt sie. Nach Brüssel reist Renate Künast nun mindestens einmal im Monat. "Mittlerweile haben wir sie ein wenig domestiziert", sagt ein hoher EU-Beamter. Das heißt nicht: gebrochen. Künast hat inzwischen einen besseren Draht zu ihren Ressortkollegen aus den anderen Ländern als zu manchen Regierungsmitgliedern daheim. Sie sucht Freunde in Brüssel, damit sie dort künftig mehr erreicht. Die Verhandlungen über die Fangquoten waren ihr eine Lehre, da ist sie ganz pragmatisch. Geweint hat sie seitdem nicht mehr.


Renate Künast
Sie wird 1955 in Recklinghausen in Nordrhein-Westfalen geboren An der FH Düsseldorf studiert sie Sozialarbeit, arbeitet 1977 bis 1979 in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel Sie studiert Rechtswissenschaft, tritt 1979 der Alternativen Liste bei und übernimmt verschiedene politische Ämter bei den Grünen Von Mitte 2000 an ist sie einige Monate lang die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Seit Januar 2001 ist Renate Künast Bundesministerin für Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Ernährung.

Die Zeit, 20.01.2004