Der erste grüne Popstar

22.11.2007 erschienen in der Vanity fair von Renate Künast.

Am 29. November 2007 wäre Petra Kelly 60 Jahre alt geworden. Für viele in meiner Partei ist das ein Anlass, uns an sie zu erinnern. Petra Kelly war der personifizierte Gründungsimpuls der Grünen. Sie stand für neue Inhalte und neue Methoden in der Politik. Wer wäre Petra Kelly heute, und was würde sie tun?

Am 19. Oktober 1992 saß ich vor dem Fernseher und war fassungslos. Ich weiß nicht mehr, wo genau ich damals war. Aber ich erinnere mich, dass ich nicht glauben konnte, was ich hörte: In ihrer gemeinsamen Wohnung in Bonn-Tannenbusch hatte man die Leichen von Petra Kelly und Gert Bastian gefunden. Was genau passiert war, wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Aber das Leben eines Menschen voller Energie, Petra Kellys Leben, war zu Ende. Mit einem Schuss, in einer schnellen Sekunde.

War es Mord? War es Selbstmord? Ich habe irgendwann aufgehört, nach einer Antwort zu suchen. Es scheint mir, als hätten die beiden etwas miteinander vereinbart. Manche Dinge wird man nie ganz verstehen. Bei der Gedenkfeier der Grünen in der Bonner Beethovenhalle standen auf der Bühne neben vielen Blumen zwei große Schwarz-Weiß-Fotos, sowohl von Petra Kelly als auch von Gert Bastian. Dem ehemaligen Bundeswehrgeneral, Petras großer Liebe, der erst sie und dann sich erschossen hatte. Sie waren nicht zu trennen.

Am 29. November 2007, am nächsten Donnerstag, wäre Petra Kelly 60 Jahre alt geworden. Für viele in meiner Partei ist das ein Anlass, uns an sie zu erinnern. Petra Kelly war der personifizierte Gründungsimpuls der Grünen. Sie war die politisch Kreative unter den Gründungspersönlichkeiten. Joseph Beuys, Rudi Dutschke, Lukas Beckmann, Milan Horácek – keiner symbolisiert den Drang, etwas zu verändern, so sehr wie Petra Kelly. Sie stand für neue Inhalte und neue Methoden in der Politik. Wer wäre Petra Kelly heute, und was würde sie tun?

Petra Kelly wurde am 29 November 1947 in Günzburg an der Donau geboren. Ihr Vater verließ die Familie, als sie sieben Jahre alt war. Nachdem ihre Mutter einen amerikanischen Offizier geheiratet hatte, siedelte die Familie in die USA über. Petra Kelly besuchte die High School, studierte Politik in Washington und engagierte sich politisch. Sie war stets die beste und erhielt viele Auszeichnungen. Ein prägendes Erlebnis war 1970 der Krebstod ihrer Halbschwester Grace. Petra arbeitete bei der EG-Kommission in Brüssel, engagierte sich in verschiedenen Umweltgruppen und gehörte schließlich zu den Gründungsmitgliedern der Grünen. Mit Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf bildete sie den ersten "Sprecherrat" der Fraktion.

Ich kannte Petra Kelly von vielen Veranstaltungen und grünen Sitzungen für Friedenspolitik, gegen Atomenergie, für Umweltschutz, für Frauenrechte. Sie hatte Charisma und füllte den Raum, den sie betrat. Wenn sie redete, zog sie die Menge in den Bann. Zwei Dinge haben mich immer beeindruckt: ihre unglaubliche Energie – wo kam die nur her? – und ihre Beharrlichkeit. Für sie waren Schwierigkeiten dazu da, überwunden zu werden. Ihre Beharrlichkeit und ihre Vehemenz waren zwar manchmal anstrengend, aber am Ende habe ich sie doch bewundert. Weil sie unbeugsam war. Ohne Scheu vor Autoritäten, wenn die Sache richtig und wichtig war.

Wie erinnern wir uns heute an Petra Kelly? Sie steht für die grüne Seele der Partei, für Radikalität, für Visionen. Unsere Regierungszeit war erfolgreich, aber erforderte auch Kompromisse. Jetzt – in der Opposition – braucht die grüne Seele wieder radikalere Ansätze, mit anderen Methoden und neuen Reformvisionen.

Petra war in ihrer Hochzeit damals genau das: eine neue Methode. Sie war international schon bekannt, als es die Grünen noch nicht gab. Angetrieben durch ihre Bekanntheit und ihre Aktionen haben sich die Grünen in ihren Anfangsjahren formiert. Sie rannte ruhelos gegen das Establishment an und hatte die Power, andere mitzuziehen. Sie kritisierte West genauso wie Ost. "Nicht den Systemen, sondern unseren Ideen loyal" – das war damals ein Wahlspruch von uns. Dafür stand gerade Petra Kelly.

Als ich 1985 zum ersten Mal mit einer Delegation von deutschen Landtagsabgeordneten in die USA reiste, wurde ich von den etablierten Vertretern immer etwas pikiert als das hässliche Entlein der deutschen Parteienlandschaft vorgestellt: "Und das ist die Grüne!" Zuvor waren die Grünen ausgeschlossen von solchen Reisen. Die Amerikaner reagierten aber zum Entsetzen der Altparteien ganz anders. Sie kannten – Petra Kelly. Alle kamen zu mir und wollten mehr erfahren über diese neue Partei, die es in Deutschland in die Parlamente geschafft hatte. Wo immer ich hinkam: Es ging um die Grünen, und ihr Star war Petra Kelly. Das hat auch mir Kraft gegeben, weil ich merkte, dass wir inhaltlich sogar international wichtig waren.

In Amerika war Petra Kelly sehr bekannt. Für die Amerikaner war sie jemand, der wichtige neue Fragen mutig gegen den Mainstream stellte. Gab es ein Unwohlsein, das die Politik überging, steckte Petra Kelly ihren Finger mitten hinein. Die ideologischen Blöcke interessierten sie nicht.

Mir fiel damals zum ersten Mal auf, dass die wichtigen Leute in der eigenen Partei oft für weniger groß gehalten werden als in der Öffentlichkeit. Mit Petra Kellys Popularität konnten wir damals gar nicht umgehen. Jeden Tag bekam sie hunderte von Briefen, aber die Grünen weigerten sich, jemanden zu bezahlen, der ihr mit der Post half. Sie scherte sich nicht um Parteiflügel. Sie hat die Grünen mit aufgebaut, aber sie war eine eigenständige Persönlichkeit, erfolgreich und bekannt auch ohne die Partei. Sie war eben ihren eigenen Ideen loyal.

Noch etwas anderes hatte Petra Kelly in den USA gelernt, das uns half, 1983 die Fünfprozenthürde zu überspringen und zum ersten Mal in den Bundestag zu kommen. Sie hat den politischen Werkzeugkasten verändert, indem sie die Methoden der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nach Deutschland brachte. Sie produzierte andere Bilder. Vor Petra Kelly war die Demonstration unser einziges Stilmittel. Petra dagegen reiste mit anderen Grünen nach Ost-Berlin zu Honecker und enthüllte ihr T-Shirt, auf dem "Schwerter zu Pflugscharen" stand. Der wusste gar nicht, wohin er vor Wut versinken sollte.

Eine Forderung wirklich auszusprechen, ein Bild zu produzieren, das Symbolkraft hat, das war mutig. Es war mutig, einem Kremlherrscher die Meinung zu sagen, wie es Petra Kelly 1983 im Katharinensaal in Moskau getan hat. Es hatte vorher niemand gewagt, niemand etwas offen angesprochen, alles blieb unter der Decke. Sie ist reingegangen, ohne zu wissen, was ihr passieren würde. Angela Merkel spricht heute in Moskau oder Peking Menschenrechtsverletzungen zwar diplomatisch an. Das erfordert aber keinen Mut, mit dem Amt im Rücken, ohne persönliches Risiko. Mich enttäuscht die Art, das medial so für sich zu verwerten wie es die Bundeskanzlerin stets tut.

Petra Kelly und die Grünen standen damals einer verkrusteten, geschlossenen Gesellschaft gegenüber. Die Eltern schämten sich noch, wenn die Kinder in eine WG zogen. Heute ist die Gesellschaft pluralistischer und offener – ein Erfolg grüner Politik. Dadurch verändert sich aber auch die Rolle der Grünen. Das Prinzip, eine Frage zu stellen, eine radikale Antwort zu finden und die Botschaft symbolisch zu transportieren, dieses Petra-Kelly-Prinzip funktioniert heute anders als vor 25 Jahren. Heute fliegt die Bundeskanzlerin klimaschädlich nach Grönland, produziert ein Foto auf einem Gletscher und tut aber wenig gegen den Klimawandel. Was setzen wir dem entgegen?

Wenn wir heute sagen: "Die Energieversorger gerieren sich wie Besatzungsmächte in diesem Land und diese Struktur muss weg", dann hätte das auch Petra Kelly so sagen können. Wie damals müssen wir heute zum richtigen Zeitpunkt an der Weggabelung zu stehen, auf die Probleme von morgen hinweisen und uns für Klimaschutz, Generationengerechtigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter einsetzten. Statt Sitzblockaden organisieren wir heute eine Stromwechselkampagne: "Atomausstieg selber machen, Anbieter wechseln."

So klar uns das heute scheint, so schwer fiel der Partei manchmal der Umgang mit Petra Kelly. Das Verhältnis der Grünen zu ihr hatte am Ende auch etwas Ambivalentes. Sie war halt gegenüber jedem radikal. Verwaltungsarbeit in einer rot-grünen Regierung wäre wohl nicht ihr Ding gewesen. Berge von Akten, Besprechungen, Kompromisse – das waren nicht ihre Stärken.

Ich frage mich, wie Petra Kelly heute Politik machen würde, wenn sie noch am Leben wäre. Ich glaube, sie würde auf unserem Parteitag engagierte, grundsätzliche Reden halten und gleichzeitig international arbeiten, vielleicht bei Attac. Auf jeden Fall würde sie sich mit der Globalisierung beschäftigen, mit der gerechten Weltordnung. Es ist nur folgerichtig, dass die Bonner Grünen erreicht haben, dass eine Straße nach Petra Kelly benannt wurde. Dazu wurde die Franz-Josef-Strauss-Allee verkürzt, und nun führt die Petra-Kelly-Allee zum UN-Gebäude. Treffender kann man Petra Kelly kaum würdigen.

Sie fehlt.